Bis zuletzt ist es nicht sicher, ob der Besuch stattfindet.
In den frühen Vormittagsstunden des 29. Januar 2019 bekomme ich eine Nachricht gemailt. Ich sitze gerade in Moskau beim Frühstück in einem kleinen Café in der Nähe vom Roten Platz und lese: Ja, Michail Gorbatschow geht es gut. Wir können um 15.30 Uhr in die Gorbatschow-Stiftung in der Leningradsky 39 kommen.
Zu Besuch bei Präsident Gorbatschow: Nie hätte ich im Entferntesten gedacht, ihm einmal persönlich zu begegnen. Und jetzt das. An meinem 57. Geburtstag. Eine wunderbare Überraschung. Das ist genauso überraschend wie 2017, als ich den ehemaligen Generalsekretär der KPdSU frage, ob ich für ein Interview nach Moskau kommen könne. Damals wurde mir abgesagt, weil Herr Gorbatschow im Krankenhaus lag. Aber die Fragen für das Buch über seinen Freund Hans-Dietrich Genscher, die könne ich gerne mailen, hieß es. Die würde er beantworten. Und tatsächlich: Es kommt ein Text auf Russisch und als ich die Übersetzung lese, freue ich mich sehr. Es ist kein trockener Text, sondern passt zwischen die narrativ aufgezeichneten Interviews über den ehemaligen deutschen Außenminister.
Zur Buchpräsentation am 12. Dezember 2018 in Berlin im Genscher-Haus zum 70. Geburtstag der FDP hat Herr Gorbatschow nicht kommen können. Die Gesundheit. Heute bringe ich ihm sein Belegexemplar persönlich vorbei (=>Fotos). Wir verbringen eineinhalb gemütliche Stunden: „Ich bin der Letzte“, sagt Michail Gorbatschow unter anderem, „alle anderen sind tot.“ Und: „Ich hatte die Chance, als Generalsekretär der KPdSU umzusetzen, was ich mir vorgenommen hatte“, sagt er. „Das, was ich tun konnte, habe ich getan
Zwei Tage nach dem Tod von Präsident Michail Gorbatschow beginne ich am 1. September 2022 mit der Arbeit an diesem Buch. Das Ziel: Am 1. Todestag einen Beitrag zum würdigen Gedenken an den Weltpolitiker vorzulegen. Der Fokus des Buches soll auf ihm als Mensch liegen und darauf, wie er unser Leben verändert hat.
Das Buch soll ein Buch in Gorbatschows Sinn werden: zusammenkommen, miteinander reden und unterschiedlichen Perspektiven zuhören. Damit ist klar: Das Buch wird kein Jubelbuch. Es beschäftigt sich neben den Stärken auch mit den Schwächen des genialen Politikers.
Vor der Umsetzung steht der Satz von Gorbatschow, alle anderen seien tot. Wie finde ich – Russischkenntnisse gleich null – jetzt Menschen, die ich befragen kann? Eine Todesanzeige in der Frankfurter Zeitung vom Sonnabend, 3. September 2022, 25 Zentimeter hoch, 8 Zentimeter breit bringt mich weiter. Dort finde ich die ersten Gesprächspartner. Die Gorbatschow-Stiftung in Moskau, Martin Hoffmann vom Deutsch-Russischen Dialog und Wolfgang Eichwede, ehemals Leiter der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen, helfen ebenfalls mit Kontakten.
Zwischen September 2022 und Mai 2023 bitte ich 21 Freundinnen und Freunde, Weggefährten, Mitarbeiter und Menschen aus dem Inner Circle um Gorbatschow bis hin zu jenen, die ihm zufällig begegneten, mir in Interviews über ihn zu erzählen. Die Erinnerungen beginnen 1985 und enden kurz vor seinem Tod 2022. Fragen an die Menschen aus den USA, Schweden, Russland, der Schweiz und Deutschland sind unter anderem: Wann trafen Sie ihn das erste Mal? Wie haben Sie ihn erlebt? Wie war Ihr Eindruck? Wie war er als Vorgesetzter? Was haben Sie von ihm gelernt? Was mochten Sie an ihm und was nicht?