Bettina Schaefer: Über dieses Buch
Chemnitz, im Februar 2018: Für das Interview mit Christian Bürger (S. 119) suche ich im Sächsischen Hof einen Raum. Ich frage die Hotelbesitzerin, Frau Karin Haase, und erläutere kurz das Buchprojekt. „Ja“, sagt sie, hinten könnten wir sitzen. Da seien zwar für eine private Feier am Abend die Tische schon eingedeckt. Aber: „Für den Genscher tue ich alles. Wissen Sie“, und Tränen schießen ihr in die Augen, „wir sind DDR-Geschädigte.“ Nie wieder bei den Recherchen zu diesem Buch begegne ich dem, was Genscher „als Mensch für die Menschen getan hat“ (Zitat von Rita Süssmuth ab S. 190) so direkt wie jetzt. Und einmal mehr stellt sich mir die Frage: Wer ist der Mensch Genscher? Wer ist der Mann, der 1972 alles tut und bereit ist, sein Leben für die gefangenen Israelis im Olympischen Dorf in München einzusetzen, weil „ich wusste, was ich zu tun hatte“? Der wirklich Verantwortung übernimmt und deswegen jahrzehntelang „hochrangiges Ziel“ von Terroristen ist? Und sich atemlos, ja fast manisch und trotz lebensbedrohender Krankheit für Versöhnung, Annäherung der Menschen in Europa und federführend für die Wiedervereinigung einsetzt? Wer ist der Mensch Genscher, der Persönlich-Privates – wenn überhaupt – sorgfältig medial inszeniert, dabei immer den Mythos des jovialen Staatsmannes im Blick hat und über den doch alles schon geschrieben scheint? Dafür befrage ich mündlich oder schriftlich zwischen Oktober 2017 und Juli 2018 Barbara Genscher, Freunde und Freundinnen, Weggefährten, Kolleginnen und Kollegen aus Russland, den USA, Dänemark, Polen, England und Deutschland und höre zu. Meine Fragen mit der Bitte um Antwort in persönlichen Worten sind zum Beispiel: Wann trafen Sie Hans-Dietrich Genscher zum ersten Mal? Was war der Anlass, wie war Ihr Eindruck und wie erlebten Sie ihn? Was mochten Sie an ihm und was nicht? Und ich will wissen: Was haben Sie von ihm gelernt? Aus gesundheitlichen Gründen ist ein Interview mit Roland Dumas (S. 175) nicht möglich. Seinen Beitrag entnehme ich dem Buch „Hans-Dietrich Genscher zum 70. Geburtstag“. Die Interviews habe ich digital aufgezeichnet und eins zu eins ohne meine Fragen transkribiert. Das heißt: Als Interviewerin nehme ich mich komplett aus dem Dialog zwischen Ihnen, den Lesern und Leserinnen, und den Erzählerinnen und Erzählern heraus, womit die Erinnerungen eine besondere dokumentarische Kraft haben. Und: Ich redigiere sehr vorsichtig, damit die Authentizität meines Gegenübers erkennbar bleibt. Alle Texte sind autorisiert. Diese subjektiven Versuche einer Annäherung an den Menschen Genscher finden Sie auf den folgenden 240 Seiten. Dabei beschreiben viele der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner Genschers Arbeitskultur, in der er Politik mit Persönlich-Menschlichem verknüpft – heute heißt das „Work-Life-Blending“ – und zur erfolgreichen, kontrollierbaren Methode entwickelt, die fast seinen gesamten Lebensraum einnimmt. Vor diesem Hintergrund scheint einerseits das Erinnern an den Politiker und Staatsmann eher leicht, andererseits das Nachdenken über ihn als Menschen – und als solcher ist er nicht perfekt – nicht immer einfach und teilweise schmerzhaft. Zur Wahl der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner: Für dieses Buch wollte ich gern Menschen aus verschiedenen Ländern und – im Sinn der Pluralität – unterschiedlichen politischen Parteien, die mit Genscher beruflich und privat in direktem Kontakt standen, gewinnen. Und, das sei hier auch gesagt: Sicher hätte ich die Recherche noch ausweiten können. Bei 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern jedoch habe ich sie beendet und bitte dafür um Ihr Verständnis. Einerseits gab es ein großes Interesse, an einem internationalen Gemeinschaftsprojekt teilzunehmen, andererseits wurden meine Anfragen wegen Zeitmangel, gesundheitlicher Einschränkungen, Alter oder auch menschlich zu großer Nähe abgesagt. Dazu gehören u. a. Joschka Fischer, Henry Kissinger, Hilde von Braunmühl, Tochter, Enkelinnen und Schwiegersohn von Hans-Dietrich Genscher. Der vorliegende Band entstand in enger Zusammenarbeit mit Barbara Genscher. Auf meine Bitte hin las sie alle Texte vor der Veröffentlichung und machte mich auf sachliche Fehler aufmerksam. Die Fakten sind soweit möglich geprüft. Fehler bitte ich zu entschuldigen und dem Verlag mitzuteilen. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre. Bettina Schaefer Hamburg /Berlin, im Oktober 2018 |