Im zweiten Abschnitt berichten Multiplikatoren über ihre Arbeit. Sie begleiten Schüler- oder Erwachsenengruppen bei mehrtägigen Seminaren in Auschwitz und bieten pädagogische und menschliche Unterstützung bei der Verarbeitung der Eindrücke an. In ihren Perspektiven geht es um Auschwitz als Lernort.
Elsbieta Pasternak arbeitet seit zehn Jahren als Pädagogin in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Ich glaube, wir stehen uns irgendwann im September 2006 in einer Tür im Weg. Wir lachen, wollen uns gegenseitig den Vortritt lassen und kommen ins Gespräch. Sie hat von meinem Buchprojekt gehört und ein paar Tage später sitzen wir im Garten. Dort erzählt sie engagiert über ihre Arbeit, hauptsächlich mit Schülern und Studenten aus Deutschland. Ihr Ziel sei, dass die Menschen bei ihrer fünf- bis siebentägigen Auseinandersetzung mit Auschwitz nicht depressiv, sondern gestärkt nach Hause fahren: „Der Aufenthalt hier kann eine Bereichung für das weitere Leben sein.“
Wie schon erwähnt, viele Gesprächspartner traf ich zufällig. So auch Shosh Hirshman aus Tel Aviv. Sie besucht im September 2006 mit einer Schülergruppe aus Israel das Vernichtungslager Birkenau. Ich habe mich einer Schülergruppe aus Saarbrücken angeschlossen. Beide Gruppen begegnen sich auf dem Lagergelände an verschiedenen Stellen, zuletzt in der „Sauna“, wo die jungen Israelis eine Abschlusszeremonie abhalten. Auf dem Weg zurück zum Ausgang kommen der Security Guard für die Gruppe und ich ins Gespräch. Wir sprechen über die Begegnung der jungen Deutschen und jungen Israelis und dass es schade gewesen sei, dass die Gruppen sich nicht kennengelernt hätten. Er fragt mich, warum ich in Auschwitz sei und ich sage es ihm. „Das wird Frau Hirshman interessieren“, sagt er und gibt mir ihre Handynummer. Einige Stunden später rufe ich sie an. Wir tauschen Mailadressen aus und treffen uns im März 2007 in Krakau wieder. Sie und Petr Grunfeld sind dort als Begleiter einer Schülergruppe aus Aschkalon. Ich darf mich ihnen anschließen. Auf der Busfahrt von Auschwitz zurück nach Krakau sprechen wir miteinander. Herr Grunfeld schläft erschöpft in der Sitzreihe hinter uns, die Schüler schauen Schindlers Liste („Den Film sehen sie am liebsten".). Frau Hirshman erzählt von ihren Eltern und Holocaustüberlebenden und ihrer Arbeit. Seit 1991 fahre sie mehrmals im Jahr mit Schülern oder Erwachsenen nach Polen. Die Besuche der Schüler würden vom israelischen Bildungsministerium finanziell unterstützt werden. Das Programm beinhalte zum Beispiel Besuche in den Vernichtungslagern Treblinka oder Maydanek, Auschwitz und Birkenau. Ziel der Reisen sei, jungen Israelis bewusst zu machen, was passiert ist, als die Juden noch kein eigenes Land hatten.
Auch Friedbert Fröhlich begegne ich im September in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Seine Gruppe fällt mir auf. Die Erwachsenen sind stiller als die anderen, konzentrierter und mehr bei sich. Ich gehe auf ihn zu, wir kommen ins Gespräch. Ein Interview will er mir nicht geben, da „ich zu sehr mit der Gruppe beschäftigt bin“. Aber ich könne ihn in Dresden besuchen. Wir machen einen Termin im November 2006 aus und treffen uns. Während des Interviews klärt sich mein Eindruck, den ich von der Gruppe gehabt hatte. Herr Fröhlich, Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche, arbeitet ganzheitlich, „mit Kopf und Herz“, wie er sagt. Es geht ihm bei der Arbeit mit Auschwitz weniger um historische Fakten. Wichtiger sind ein Erleben des historischen Ortes und eine Auseinandersetzung mit der Opfer- und Täterperspektive. Sein Ziel ist, dass die TeilnehmerInnen lernen, Auschwitz emotional auszuhalten und nicht geschwächt, sondern gestärkt den Ort verlassen.
Bruder Stanislaus spricht über Auschwitz aus der Sicht eines katholischen Mönchs. Er ist Franziskaner Minorit und lebt in Harmeze im Pater Kolbe-Zentrum. Das ist etwa drei Kilometer von Birkenau entfernt. Dort sprechen wir auf einer Bank im Garten miteinander. Die Sonne scheint, es ist ein wunderbarer Tag. Bruder Stanislaus wirkt sehr bescheiden und zurückhaltend und ich spüre, wie er in seinem Glauben ruht. Manchmal scheint es mir, als sei er sich nicht sicher, ob ich seine Perspektive – die des Gläubigen, für den der Tod nicht das Ende ist – wirklich verstehe. Es geht ihm um Versöhnung und Frieden in der Gegenwart: „Auf der einen Seite“, sagt er, „gibt es in Auschwitz und Birkenau einen schier unendlichen und zu großen Teilen industriellen Tod. Auf der anderen Seite kann dieser Platz heute auch ein Platz der Heilung sein.“ Auschwitz sei zudem ein Symbol: „Wir dürfen nicht nur bequem leben. Wir müssen auch etwas machen mit unserem Leben.“
Jugendliche aus der rechten Szene, Skinheads, Strafgefangene: Mit ihnen fährt Werner Nickolai aus Freiburg nach Auschwitz. Als ich davon höre, ziehen vorurteilig Bilder von glatzköpfigen, jungen Männern in schwarzen Bomberjacken und von „Heil Hitler“-Rufen im Stammlager an meinem inneren Auge vorbei. Dann denke ich, dass Auschwitz als Lernort für Jugendliche aus dem rechten Milieu genau wie für andere ein interessanter Ort sein kann. Ob das so ist, möchte ich von Werner Nickolai wissen. Wir treffen uns im Juli 2007 in Freiburg. Er habe nur wenig Zeit, sagt er, er müsse noch zum Sport. Ein zierlicher Mann sitzt mir gegenüber, von dem ich den Eindruck habe: Das ist kein Schreibtischprofessor mit praktischer Erfahrung gleich Null. Der weiß, was er macht. Werner Nickolai erklärt mir zwei Stunden seine Arbeit und Ziele: „Jugendlichen in einer Form Bildung zu vermitteln, auf die sie sich einlassen können.“ Die meisten von ihnen hätten die Schule abgebrochen, wüssten nichts über die Nazi-Zeit. Geschichtsbücher würde keiner lesen - aber die Wirkung des Ortes Auschwitz bewirke einiges „und den Zeitzeugen hören sie zu. Wenn ich mit einem rechtsradikalen Jugendlichen in Auschwitz war“, fasst er zusammen, „kann ich erwarten – und das Ziel wird erreicht! –, dass er der Auschwitz-Lüge keinen Glauben mehr schenkt.“
Thomas Kuncewicz leitet das jüdische Zentrum in Oswiecim. Es ist in einer ehemaligen Synagoge untergebracht. Anfang September 2006 erlebe ich das Stadtfest von Oswiecim (auf dem ehemaligen Sportplatz der SS) mit einem sehr gut besuchten Openair-Rock-Konzert und einem kleinen Jahrmarkt mit Autoscooter, Kinderkarussell und „Top Spin“ – vielleicht 800 Meter Luftlinie vom Lager Auschwitz entfernt. Ich habe damit Schwierigkeiten: Auschwitz, Rock-Musik und Jahrmarkt – wie geht das, was sagt die jüdische Gemeinde dazu? Herr Kuncewicz erklärt mir, dass man von den Menschen, die hier leben, nicht erwarten könne, dass sie sich wie auf einem Friedhof verhalten. Solange Respekt und Sensibilität gegenüber Auschwitz da seien, sollten Veranstaltungen wie das Stadtfest akzeptiert werden. Aus heutiger Sicht sei es sicher gut gewesen, wenn die Behörden nach dem Zweiten Weltkrieg das ganze Gebiet zur Ruhezone erklärt hätten. Doch darauf sei niemand gekommen.