Was für ein Leben! [...] Krieg, Tod und Mord hat Noach Flug hinter sich, als ich ihn und seine Frau Dorota das erste Mal im Dezember 2006 in Berlin treffe. Er gibt mir ein Interview (s. weiter unten) für das Buch Lass uns über Auschwitz sprechen, das sich als erstes mit der Gegenwart der Gedenkstätte, ihrer Wahrnehmung und dem Gedenken beschäftigt. 28 Menschen im Alter zwischen 16 und 84 Jahren aus Israel, Polen, Deutschland, Frankreich und Österreich erzählen darin von ihren Begegnungen mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau.
Unprätentiös öffnet er sich mir, und als ob wir uns ewig kennen, steigt er tief in seine schmerzhaften Erinnerungen an den Holocaust, mit all den massiven Demütigungen und großen Verlusten: Seine Angehörigen – ermordet, den Familienbesitz – verloren. Er spricht von Glück, vom Überleben und seinem Leben nach dem Überleben. Und darüber, was die Gedenkstätte Auschwitz heute mit jährlich rund 1,3 Millionen Besuchern aus der ganzen Welt bedeutet, und verbindet Erinnern, Gedenken mit Hoffnung, Wünschen und Visionen. Und dann ist da noch etwas anderes: Etwa nach zehn Minuten des Interviews habe ich den Eindruck, einem außergewöhnlichen Menschen gegenüber zu sitzen. Warum das so ist, erschließt sich mir nicht auf den ersten Blick. Flug ist freundlich, bescheiden, bei sich, und dennoch frage ich mich im Stillen: Wer ist das?
Drei Jahre später besuche ich Noach Flug in Jerusalem. Dorota und er laden mich zu sich nach Hause ein, und ich übergebe ihm sein „Belegexemplar“. Ja, es ist dann doch noch gelungen, das Buch zu verlegen, und beide sind wir froh darüber. Für ihn ist es ein weiterer Puzzlestein bei seinen Bemühungen um zeitgemäße, relevante und nachhaltige Erinnerung. Aber das weiß ich damals nicht so genau und bin überrascht und sprachlos, als Noach mir unbedeutender Journalistin seine Freundschaft anträgt, die ich gerne annehme. [...] Die vorliegenden Erinnerungen von 26 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus Israel, den USA, Polen und Deutschland beginnen 1940 in Polen. Noach ist 15 Jahre alt und sein Heimatland von Nazi-Deutschland besetzt. Mit seinen Eltern Regina und Itzhak lebt er eingesperrt im Ghetto Lodz, geht als Teenager dort in das Gymnasium für Jungen und arbeitet aktiv und in ständiger Lebensgefahr im Ghetto-Widerstand der Jugend. Und sie enden mit seinem Tod am 11. August 2011 in Jerusalem. Dazwischen liegen 71 Jahre widerständiges Leben eines – trotz allem – optimistischen Menschen mit einem außergewöhnlichen sozialen und politischen Talent und darin begründetem großen und nachhaltigen Erfolg.
Nicht immer beantworten meine Gesprächspartner jede Frage bis ins letzte Detail. Es gibt Dinge, die behalten sie für sich. Das darf sein. Ich respektiere sie und das, und so ist es möglich, dass Themen fehlen, es Lücken gibt. Und als ob er noch leben würde, erinnern sich viele an Noach Flug im Präsens. In diesen Momenten hätte es niemanden wirklich gewundert, wenn er durch die Tür gekommen wäre, sich dazugesetzt, zugehört und mit ruhiger Stimme vielleicht drei, vier Sätze gesagt hätte. [...] Der rote Faden, der sich durch alle Erinnerungen zieht, ist die sympathisch-bescheidene, zurückhaltende Person Flugs, die – in einer gewissen Distanz zu allen und allem und damit menschlich nie ganz greifbar – Verantwortung für das eigene Leben und für Dinge, die seiner Meinung nach so nicht gehen, übernimmt. Er leistet Widerstand, bleibt deswegen innerlich autonom und authentisch, und das inspiriert wiederum andere. Er kämpft, indem er geschickt kooperiert, festgefahrene Systeme unterläuft und Handlungen einfordert. Und das nicht zu seinen, sondern zu Gunsten anderer. Denn sein größter Erfolg war es, federführend daran beteiligt zu sein, dass circa zwölf Milliarden Euro zusätzliche persönliche Entschädigung für Holocaust-Überlebende und Zwangsarbeiter zur Verfügung gestellt wurden. [...] Denn was dieses Buch Ich bleibe Optimist, trotz allem – Erinnerungen an Noach Flug nicht sein möchte, ist eine Biografie oder historisch-politische Analyse seines Lebens und Wirkens in Bezug auf d a s Thema Flugs: die Erweiterung individueller Entschädigung für Holocaust-Überlebende und Zwangsarbeiter. Darüber haben bereits u. a. Raul Teitelbaum: Die biologische Uhr und Stuart Eizenstat: Unvollkommene Gerechtigkeit ausgezeichnete Bücher geschrieben. Nein, im vorliegenden Band strahlen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Ausschnitte aus Flugs unermüdlich gelebten und facettenreichen Leben an, die ihn auf den nächsten Seiten als Teenager im Widerstand, Klassenkamerad, Ehemann, Vater, Freund, Helfer, Chef, Delegationsmitglied, Unterstützer, Diplomat, Sozialist und Demokrat und immer wieder als Kämpfer für „seine“ Holocaust-Überlebenden zeigen – denn: Noach Flug war a Mentsh.