Ich erinnere mich sehr genau, wie ich 1969 nach der Bundestagswahl Genscher das erste Mal erlebte. Damals arbeitete ich als Oberregierungsrat im Bundesinnenministerium und wir alle waren gespannt, wie wohl die Übergabe-Veranstaltung in der Turnhalle in der Rheindorfer Straße beim früheren BMI in Bonn abläuft. Und dann weigert sich Ernst Benda, der Vorgänger von Genscher, ihn als den neuen Minister einzuführen. Ich meine, wir kannten Genscher ja gar nicht und dennoch war das etwas, was uns allen damals gewaltig gestunken hat. Also peinlich, peinlich: Benda begrüßt Genscher nicht, sondern er musste eingeführt werden von dem tiefschwarzen Staatssekretär Karl Gumbel von der CDU.
Genscher hat relativ bald im Innenministerium eine politische Arbeitsgruppe eingerichtet – so eine Art Planungsstab. Jeden Dienstagmorgen empfing er uns zur Beratung. Dabei muss ich ihm irgendwie aufgefallen sein. Jedenfalls nach kurzer Zeit hat er mich kommen lassen und sagte, dass er in zwei Tagen sein erstes großes Werk – ein Programm zur Verbrechensbekämpfung – vorstellen wolle. Er zeigte es mir und sagte, dass er mit dem, was bis dahin vorlag, nicht zufrieden sei. Man müsse da mal drüber gehen und sich das und das anschauen und ob ich mir das in zwei Tagen zutrauen würde. Naja, da konnte ich ja nicht Nein sagen und Genschers damaliger Büroleiter Herr Schaible und ich haben an zwei Tagen und in zwei Nächten den Entwurf überarbeitet.
Dieses Programm wurde 1970 Genschers erster größerer Erfolg und kurz drauf ließ er mich kommen und sagte: „Herr Kinkel, vielen Dank, erstens. Zweitens: Wollen mein persönlicher Referent werden?“
Genscher galt als sehr anspruchsvoll und hatte, das muss ich hier deutlich und klar sagen, in den wenigen Tagen, in denen er da war, schon mit einigen Leuten Probleme gehabt. Die Entscheidung war also nicht einfach. Ich sagte: „Ja gut, das muss ich mir überlegen“, und hab´ dann mit meinem im letzten Jahr leider verstorbenen Freund, dem Verfassungsrichter Dieter Hömig und mit meinem Vater gesprochen. Beide sagten: „Na ja, da kannst du kaum nein sagen. Aber du solltest nicht unbedingt in die FDP reingehen“, was ich auch nicht wollte. Ich bin dann zum Minister hin und sagte ihm: „Ich mach´ das, aber ich trete nicht in die FDP ein.“ Und er erwiderte, dass ihm das egal sei und bedankte sich. Das war der Beginn einer 46jährigen freundschaftlichen Verbindung.
Genscher und ich haben uns von Anfang an gut verstanden. Er war ungeheuer umtriebig, fordernd und, wie soll ich mal sagen, pausenlos unterwegs. Das war nicht einfach und immer, wenn es zwischen uns schwierig wurde, sagte ich ihm: „Sie können mich ja wegschicken. Ich geh´ zurück ins Ministerium.“ Dann hat er – das werde ich nie vergessen – immer so genoddelt, gegrummelt und den Kopf leicht bewegt. Also kurz und gut: Wir blieben zusammen.
Als Innenminister hat mich seine Vitalität fasziniert, seine Leistungskraft, sein Durchsteh- und Durchsetzungsvermögen. Er war fordernd, oft auch schroff, dominant. Andererseits erlebte ich ihn als ausgesprochen liebesbedürftig und deshalb manchmal auch zu nachgiebig. Dennoch: Ich bin nicht täglich in Beurteilungen verfallen, sondern habe als junger Kerl, der ich damals war, die Chance wahrgenommen, war dabei – und: Genscher förderte mich in jeder Beziehung; das heißt, ich wurde für meine Arbeit belohnt.
Ja, er war ungeheuer energiegeladen und das bis zu seinem Tod. Er war stark und das kam wohl daher, weil er früh in der Familie von Schicksalsschlägen getroffen worden war. Sein Vater starb 1937, da war er neun Jahre alt – erstens. Zweitens: Er ist eingezogen worden mit 17. Was er da als Soldat und Pionier zum Schluss des Zweiten Weltkriegs in der 12. Armee von Walther Wenck mitgemacht hat, hat ihn sehr geprägt. Aus dem Krieg kam er mit einer schweren Lungentuberkulose nach Hause. Über ein Jahr lag er im Krankenhaus und es war nicht klar, ob er es überhaupt schafft. Später habe ich erlebt, wie Genscher hier in der Uniklinik schwer krank auf der Intensivstation lag. Ich besuchte ihn, hatte große Sorgen, und dann hat er es doch nochmal gepackt! Was ich damit sagen will: Er hatte einen ungeheuren Überlebenswillen und wollte sein Leben genießen.
Genscher war sensibel, stark, motiviert. Sein Umgang mit den Mitarbeitern im Bundesinnenministerium war anfangs manchmal schwierig: Es knallten auch mal die Türen. Kollegen wurden von ihm zum Teil hart angegangen. Dazu gehörte aber auch, dass er sich entschuldigte und das nicht hinten rum, sondern gerade heraus. Das war eine seiner Stärken, denn er hing an den Mitarbeitern und die hingen an ihm. Auch zwischen ihm und mir gab es hin und wieder gewisse Spannungen. Harmoniebedürftig wie er war, rief er dann 10 Minuten später bei mir an und sagte: „Herr Kinkel, da war doch kürzlich … und kommen Sie doch mal.“ Dann haben wir uns wieder getroffen und nicht mehr über das Vorgefallene gesprochen.
In Genschers Zeit im BMI fiel die Olympiade 1972. Damals war ich Leiter des Ministerbüros und die Vorbereitungen, die waren anstrengend. Oft bin ich mit ihm im Hubschrauber zu den Treffen des Olympia-Komitees nach München geflogen. Als am Morgen des 5. September das Attentat passierte, da war ich hier in Bonn und Genscher rief an, ich weiß nicht mehr genau um sieben oder acht Uhr: „Herr Kinkel, furchtbar“, und so weiter. „Ich bin zwar nicht der direkt Zuständige. Aber als Bundesinnenminister und zuständig für Sport und Innere Sicherheit insgesamt, muss ich da mit rein.“
Ich habe dann miterlebt wie sich Genscher als Ersatzgeisel zur Verfügung stellte. Ich glaube, er hatte das Gefühl, dass das mit den Israelis besonders schlimm war. Vorher hatte er mit seiner Mutter, seiner Frau und seiner Tochter telefoniert, denn es war ihm klar, dass er sein Leben aufs Spiel setzte.
Wir sind die ganzen Tage über im Kontakt geblieben und ich bekam mit, wie abends entschieden wurde, Terroristen und Geiseln nach Fürstenfeldbruck zu fliegen. Dann, das werde ich nie vergessen, war zwei Stunden Funkstille bis dort das Furchtbare passierte: Neun Geiseln und fünf Terroristen waren tot, drei Terroristen überwältigt, ein Polizist erschossen, ein Pilot schwer verletzt. Genscher rief mich an und sagte, dass er Willy Brandt seinen Rücktritt angeboten habe, was der Bundeskanzler in den Katakomben des Olympia-Stadions mit: „Quatsch, Herr Genscher“, zurück wies.
Für den nächsten Morgen bat Genscher mich, nach Fürstenfeldbruck zu fliegen, um mir alles anzuschauen, dann weiter nach München, um mit Polizeipräsident Schreiber und dem bayrischen Innenminister Merck den Bericht über das Geschehene zu schreiben. Als er und ich uns das erste Mal danach trafen, ist er im Sessel weggesackt und ohnmächtig geworden, so furchtbar hatte ihn das geschlaucht. Was dann folgte, war typisch Genscher: Da müssen wir reagieren und das machen wir sofort – die Gründung der GSG9. Uli Wegener war ja BGS-Verbindungsoffizier bei mir im Büro und kam als derjenige in Frage, diese Anti-Terror-Einheit aufzubauen. Das hat er dann auch getan und sehr viel Gutes bewirkt; ich erinnere nur an Mogadischu. Als Walter Scheel 1974 Bundespräsident wurde, erinnere ich mich, wie Genscher zunächst Innenminister bleiben wollte. Auch aufgrund seiner früheren Arbeit in der Fraktion, lag ihm die Welt des Inneren mehr. Und: Bundeswehr, Bundesgrenzschutz waren ihm wichtig. Wenn er zum Beispiel schlecht drauf war, haben wir ihm einen Parka besorgt und ihn an die innerdeutsche Grenze geschickt. Dann blickte er rüber in seine alte Heimat, begleitete die Bundesgrenzschützer im Dienst und war anschließend wieder gut zu haben.
Anfangs war es als Außenminister nicht leicht für Genscher. Eine völlig neue Materie. Aber die Kolleginnen und Kollegen im Ministerium haben schnell gemerkt, dass mit ihm einer kam, der sich die Butter nicht vom Brot nehmen ließ und sich schnell und gut einarbeitete. Das wirkte und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Auswärtigen Amt waren später ungeheuer stolz auf ihn.
In Europa und der Welt vermittelte er als Außenminister nicht den harten, funktionierenden Deutschen. Genscher wusste, was zwei Weltkriege, von denen er am letzten noch teilgenommen hatte, der Holocaust und alles, was da noch gewesen war, bedeutet haben. Es war nicht selbstverständlich, dass wir wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen worden sind. Nein, er war freundlich, menschenzugewandt, ein Menschenfänger. Und seine Frau Barbara war für ihn dabei von zentraler Bedeutung. Sie spielte in seinem politischen Denken und Handeln eine wichtige Rolle, die sie im Hintergrund leise und besonnen übernahm.
Genscher war emotional und rational gesteuert, etwas, was bei ihm kein Widerspruch war. Immer hat er seine Antennen des Erwartens und Riechens von Situationen und Vorgängen in der Welt, in der Partei, im Ministerium, in der Koalition ausgefahren und überall etwas aufgenommen. Sein „um-sieben-Ecken-herum“ im Voraus Denken – das war schon fast furchterregend und mit eine seiner größten Stärken. Nachdenken, Argumentieren, nie Aufgeben, das war sein Lebensmotto.
Vor allem im kleinen Kreis war Genscher ein erstklassiger, den Konsens suchender Anwalt und genialer Verhandlungspartner. Innerhalb seiner Verhandlungsführung ging er einerseits immer auf den anderen ein und versuchte andererseits, möglichst viel raus zu holen, was er anschließend selbst verwerten konnte. Deshalb hat er in vielen Bereichen – sowohl im Innen- wie auch im Außenministerium ungeheure Erfolge gehabt. Und dieses ungeheuer Zähe war dann Genschers Erfolg bei der KSZE, das war der Erfolg von „2plus4“.
Was ich von ihm gelernt habe: Situationen, mit denen man zu tun hat, sauber rational und emotional zu analysieren! Da war er gut drin, sehr gut sogar. Das ist das Erste. Das Zweite ist: Verhandlungsführung, taktische Dinge, nie aufgeben. Und drittens: wie man ein Ministerium führt, wie man mit Menschen umgehen muss und was es bedeutet, in einer staatlichen Funktion geliehene Macht auf Zeit zu haben. Das habe ich ebenso gelernt genauso wie Situationen meistern und die Nerven nicht verlieren, also sich nicht überrumpeln lassen, sondern ruhig und sachlich überlegen: Was ist jetzt das Richtige? Genscher war ja sehr presseorientiert, ja, fast pressegeil und wollte immer alles wissen. Ungeheuer neugierig, ja fast manisch, sog er pausenlos Informationen auf – auch das habe ich ein wenig von ihm übernommen. In den letzten Jahren haben wir uns viel über unsere Familien und Enkelkinder unterhalten. Seine Familie bedeutete ihm alles: Tochter Martina war sehr wichtig und die Enkelinnen Charlotte und Henriette waren sein Ein und Alles. Und er war interessiert: „Wie ist das bei ihnen Herr Kinkel, mit ihren Enkeln?“
Ja, ich vermisse ihn. Wir vermissen ihn alle. Er war ein hervorragender Gesprächspartner und Ratgeber und fehlt vor allem auch seiner FDP. In den letzten Wochen seines Lebens hat er noch zwei Themen gehabt, die ihn sehr bewegten: eines war sein Europa. Und das andere waren die Beziehungen mit Russland: „Wir müssen da wieder in ein normales Verhältnis kommen“, sagte er. Die letzten 14 Tage vor seinem Tod waren schwierig und ich habe gemerkt, jetzt geht es wirklich zu Ende.
Natürlich habe ich ihn gemocht, sonst wäre das nicht 46 Jahre so gut gegangen. Wir haben unsere Stärken und Schwächen gekannt und hatten ein freundschaftliches Verhältnis. Wissen Sie, Genscher ist eine Person der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dazu konnte ich ein bisschen beitragen, ihm bei seiner Arbeit helfen und ihn freundschaftlich unterstützen. Er hat viel für mich und ich habe aus Überzeugung auch einiges für ihn getan.